Deutliche Preisanstiege

Inflationsdruck in Deutschland im Mai über Erwartungen

30.05.22 15:21 Uhr

Inflationsdruck in Deutschland im Mai über Erwartungen | finanzen.net

Der Inflationsdruck in Deutschland hat im Mai deutlicher als erwartet zugenommen.

Laut Mitteilung von Eurostat stieg der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) gegenüber dem Vormonat um 1,1 Prozent und lag um 8,7 (April: 7,8) Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Die von Dow Jones Newswires befragten Volkswirte hatten einen monatlichen Preisanstieg von nur 0,4 Prozent und eine Jahresteuerung von 8,1 Prozent prognostiziert. Der nationale Verbraucherpreisindex erhöhte sich um 0,9 Prozent auf Monats- und 7,9 (7,4) Prozent auf Jahressicht. Erwartet worden waren Raten von nur 0,5 und 7,5 Prozent.

Waren verteuerten sich mit einer Jahresrate von 13,6 (12,2) Prozent, darunter Energie um 38,3 (35,3) Prozent und Nahrungsmittel um 11,1 (8,6) Prozent. Die Teuerung bei Dienstleistungen betrug 2,9 (3,2) Prozent und die bei Wohnungsmieten 1,7 (1,6) Prozent.

Nach Angaben von Destatis wirkten sich deutliche Preisanstiege auf den vorgelagerten Wirtschaftsstufen preiserhöhend aus. Hinzu kämen die preistreibenden Effekte unterbrochener Lieferketten infolge der Corona-Pandemie. "Ähnlich hoch wie im Mai 2022 war die Inflationsrate in Deutschland zuletzt im Winter 1973/1974, als infolge der ersten Ölkrise die Mineralölpreise ebenfalls stark gestiegen waren", teilten die Statistiker mit.

Lindner: Bekämpfung der Inflation muss oberste Priorität haben

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat die Bekämpfung der Inflation als "oberstes Gebot" für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung bezeichnet und die Absicht unterstrichen, im Haushalt für kommendes Jahr wieder die Schuldenbremse des Grundgesetzes einzuhalten. "Wir müssen die Inflationsspirale durchbrechen, das hat nun oberste wirtschafts- und finanzpolitische Priorität", sagte Lindner bei einer Pressekonferenz. "Die Inflation ist ein enormes wirtschaftliches Risiko, und wir müssen diese Inflation bekämpfen, dass daraus keine Wirtschaftskrise erwächst, keine Spirale entsteht, durch die die Inflation sich selbst nährt."

Es gelte, "Druck von den Preisen" zu nehmen, indem der Staat nicht auch noch seine Finanzkraft einsetze, um in knappen Branchen durch Subventionen etwa noch Nachfrage zu erzeugen. Die expansive Finanzpolitik werde beendet. Mit Blick auf die Einigung zum 100 Milliarden Euro umfassenden Bundeswehr-Sondervermögen sagte Lindner, damit ende eine lange Zeit der Vernachlässigung der Streitkräfte. Dies bedeute aber "kein Aufweichen der Schuldenbremse". Jetzt gehe es darum, "dass aus Geld auch wirkliche Befähigungen für die Bundeswehr werden".

Deshalb müssten eine "Beschaffungsbeschleunigungsinitiative" und eine strategische Diskussion über die Notwendigkeiten folgen. "Für alles außerhalb des Sondervermögens Bundeswehr gilt die Schuldenbremse ab dem Jahr 2023", betonte Lindner. Dies gelte auch für zusätzliche Aufgaben in der Sicherheitspolitik wie etwa Cyberabwehr, Finanzhilfen und Zivilschutz. Den Vorschlag von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für ein soziales Klimageld wies Lindner zurück. Solche Vorstellungen seien "nicht vom Koalitionsvertrag gedeckt". Der FDP-Vorsitzende schlug im Gegenzug eine Steuerreform mit Entlastungen für die breite Mehrheit der Gesellschaft vor.

DIW: Bundesregierung muss soziale Härten der Inflation besser abfedern

Angesichts der höchsten Inflation seit 50 Jahren fordert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) von der Politik mehr Hilfen für Menschen mit sehr geringen Einkommen. Denn der Preisanstieg habe wohl noch nicht den Höhepunkt überschritten.

"Wir erleben eine höchst unsoziale Inflation, da gerade Menschen mit geringen Einkommen besonders stark durch höhere Preise für Energie und Lebensmittel belastet werden", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Im Mai hat die Inflation in Deutschland nach vorläufigen Zahlen 7,9 Prozent erreicht. Nach einer Studie aus seinem Haus schlagen sich für Menschen mit sehr geringen Einkommen die steigenden Energiepreise relativ zu ihrem Einkommen drei- bis viermal so stark nieder wie für Menschen mit hohen Einkommen.

Die Bundesregierung sei daher in der Pflicht und müsse "deutlich" mehr tun, um die sozialen Härten der Inflation abzufedern. Das bisherige Entlastungspaket war nach seiner Ansicht "nicht zielgenau genug und teilweise sogar kontraproduktiv". Denn die Spritpreisbremse sei eine Umverteilung von Arm zu Reich und konterkariere den Klimaschutz, wie Fratzscher erklärte. Außerdem erhielten zu viele bedürftige Menschen, allen voran Rentnerinnen und Rentner, kaum Unterstützung.

Familien mit geringen Einkommen sollten laut DIW nicht nur einmalig, sondern permanent entlastet und die Sozialleistungen "dringend" erhöht werden. So sollte etwa der Hartz-IV-Satz sowie die Grundsicherung um 100 bis 150 Euro monatlich angehoben werden.

"Den Spielraum hat sie, da sich mit steigender Inflation auch die Steuereinahmen erhöhen", so Fratzscher mit Blick auf die Bundesregierung. "Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Spitze des Inflationsanstiegs vermutlich noch nicht erreicht ist. Ich befürchte, dass wir das Risiko einer weiteren Eskalation des Krieges ebenso unterschätzen wie die Gefahr einer weiteren Corona-Welle."

Ökonomen-Stimmen zur hohen Inflation in Deutschland

Die Teuerung in Deutschland kratzt an der Acht-Prozent-Marke. Im Mai zog die Inflation auf bereits rekordverdächtigem Niveau weiter an: Die Verbraucherpreise lagen um 7,9 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Das teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Montag anhand vorläufiger Daten mit. Inflationsraten auf diesem Niveau gab es im wiedervereinigten Deutschland zuvor nicht. In den alten Bundesländern muss man bis in den Winter 1973/1974 zurückgehen, um ähnlich hohe Werte zu finden. Damals waren die Mineralölpreise infolge der ersten Ölkrise stark gestiegen.

Nach langem Zögern ist inzwischen die erste Zinserhöhung im Euroraum seit elf Jahren angepeilt: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat in Aussicht gestellt, mit zwei Zinsschritten im Juli und September die derzeit negativen Einlagenzinsen von minus 0,5 Prozent zu beenden. Mit höheren Zinsen kann steigende Inflation bekämpft werden. Stimmen von Ökonomen im Überblick:

Michael Holstein, Chefvolkswirt DZ Bank

"Die hohe Teuerungsrate belastet die Budgets der Verbraucher in Deutschland erheblich. Haushalte mit relativ geringen Einkommen leiden unter der Verteuerung von Nahrungsmitteln und Energie besonders. Zwar werden die Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung in den kommenden Monaten für eine gewisse Erleichterung sorgen. Die Gefahr bleibt aber, dass der Rückgang der realen Haushaltseinkommen auch zu einer weiteren konjunkturellen Eintrübung führen wird."

Michael Heise, Chefökonom HQ Trust:

"Für Konsumenten war der Mai alles andere als ein Wonnemonat. (?) Kraftstoffe und Heizöl haben sich gegenüber April zwar auch wieder verteuert, maßgeblich trugen aber wohl Lebensmittel und gewerbliche Waren ohne Energie zur Preisniveauerhöhung bei. Hierauf weisen Ergebnisse aus einzelnen Bundesländern hin. Die steigenden Kosten für Energie, Transport und Materialbeschaffung werden von den Unternehmen weitergeben. So kommt der starke Anstieg der Erzeugerpreise gewerblicher Produkte immer stärker beim Einzelhandel und damit beim Endverbraucher an. Für Verbraucher ist kurzfristig keine Entspannung in Sicht. Die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Energiepreise und die Lieferengpässe durch Chinas Lockdown-Maßnahmen werden auch in den Folgemonaten das Preisklima belasten."

Jens-Oliver Niklasch, Volkswirt Landesbank Baden-Württemberg:

"Preiserhöhungen und kein Ende. Blickt man auf die vorgelagerten Stufen, dürften auch die kommenden Monate von hoher Inflation geprägt bleiben. Neben Energie werden jetzt auch Lebensmittel immer teurer. Die nun anstehenden Monate mit einer steuerlichen Entlastung für Kraftstoffe und verbilligten Nahverkehr sind keine echte Verbesserung, sondern eher das Lehrbuchbeispiel für fiskalischen Aktionismus. Entlastung wird es erst geben, wenn den hohen Energiepreisen Einhalt geboten ist, danach sieht es aber vorerst nicht aus. Wir werden mit den nun erreichten Preisniveaus leben müssen. Vor allem einkommensschwächere Haushalte trifft das hart, da sie überproportional viel für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen."

Friedrich Heinemann, Leiter Forschungsbereich "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" am ZEW Mannheim:

"Verbraucherinnen und Verbraucher werden mit weiter steigenden Preisen rechnen müssen, weil viele Vorprodukte unvermindert knapp sind und die Großhandelspreise immer noch dramatisch zulegen. Überraschend gute Arbeitsmarktdaten deuten zudem darauf hin, dass auch in Deutschland die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale nun bald Fahrt aufnehmen könnte. Die inflationären Prozesse sind dabei sich zu verstetigen."

Jörg Zeuner, Chefvolkswirt Union Investment

"Erst ab Ende 2022 rechnen wir mit einem deutlichen Rückgang der Teuerung und ab Anfang 2024 mit Inflationsraten, die mit 2 bis 2,5 Prozent deutlich näher an der Zielmarke der Europäischen Zentralbank liegen. Der wesentliche Grund: Nachfrage und Angebot sollten bis dahin besser in Einklang miteinander kommen - in Höhe und Zusammensetzung. Erstens, weil die Nachfrage insgesamt an Dynamik verlieren sollte. Zweitens, weil die größten Angebotsengpässe - vor allem im Energiebereich und bei Lebensmitteln - hinter uns liegen dürften. Und drittens wird sich das Nachfrageverhalten weiter normalisieren. So werden weniger Güter, dafür aber wieder mehr Dienstleistungen nachgefragt. Gleichzeitig entspricht die Angebotspalette viel mehr einer Welt, welche die Pandemie überwunden hat."

Marco Wagner, Volkswirt Commerzbank

"Auch auf längere Sicht sprechen etliche Gründe für einen hohen Inflationsdruck. Auch wegen der Pandemie ist in den vergangenen Jahren viel zu viel Liquidität in den Umlauf kommen, was die Inflation noch einige Zeit antreiben wird. Hinzu kommen eher strukturelle Faktoren wie der sinkende Anteil der Arbeitsbevölkerung in vielen Weltregionen, die Kosten des Kampfes gegen den Klimawandel sowie das Stocken der Globalisierung."

Ralf Umlauf, Volkswirt Landesbank Hessen-Thüringen:

"Die Inflation überrascht erneut und kennt weiterhin nur eine Richtung - aufwärts. Der Preisauftrieb ist breit angelegt, wobei besonderes Augenmerk auf Energie und Nahrungsmitteln liegt. Aber auch die Kerninflation sollte nicht aus den Augen verloren werden. Weitere Anstiege sind hier zu erwarten und dies setzt die Europäische Zentralbank unter Handlungsdruck, auch wenn EZB-Chefvolkswirt Lane und EZB-Präsidentin Lagarde noch versuchen, die Zinserwartungen zu dämpfen. Mehr und mehr preist der Markt einen großen Zinsschritt im Juli ein."

Thomas Gitzel, Chefökonom VP-Bank:

"Die EZB hat die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Die EZB hat die Folgen des Energiepreisanstieges nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Deutliche steigende Energiepreise fressen sich nach einiger Zeit in das breite Preisgefüge hinein. Diesen Effekt haben die Währungshüter unterschätzt. Wenigstens ist nun das Bekenntnis zum Gegensteuern abgelegt. EZB-Chefin Christine Lagarde hat für den Juli und September ungewöhnlich unverklausuliert Zinsanhebungen angekündigt."

Carsten Brzeski Chefvolkswirt für Deutschland und Österreich der ING:

"In einem heute Morgen veröffentlichten Interview brach Philip Lane definitiv mit der bisherigen Kommunikationsstrategie der EZB, sich niemals vorab festzulegen. Stattdessen formulierte er den Fahrplan für die Normalisierung der Geldpolitik und kündigte de facto das Ende der Nettokäufe von Vermögenswerten Anfang Juli, eine Zinserhöhung um 25 Basispunkte auf der EZB-Sitzung am 21. Juli und eine weitere Zinserhöhung um 25 Basispunkte auf der Sitzung im September an. Am Inhalt seiner Bemerkungen ist nichts auszusetzen, denn genau das haben wir bereits von der EZB erwartet. Eine De-facto-Vorankündigung fast zwei Monate vor dem Treffen am 21. Juli ist jedoch, gelinde gesagt, bemerkenswert. (?) Wenn sich die Kerninflation in der Eurozone im Mai und Juni weiter beschleunigt, könnten Lane und Lagarde ihre neue Vorabverpflichtung immer noch bereuen."

FRANKFURT / BERLIN (Dow Jones / dpa-AFX)

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